ADHS – Hilft neuromotorische Förderung?
- Erika Weller

- vor 3 Tagen
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Aktualisiert: vor 8 Minuten

„Bei meinem Kind wurde nach Tests ADHS diagnostiziert. Vor allem im Bereich Aufmerksamkeit und Konzentration zeigt es größere Schwächen. Ich suche jetzt nach Unterstützung. Sind wir da bei Ihnen richtig?“ Solche Anfragen erreichen mich immer wieder. Was brauchen Kinder mit ADHS? Was hilft wirklich weiter? Und wie können wir sie in ihrem Alltag sinnvoll begleiten?
Was ist ADHS?
ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) ist eine neuroentwicklungsbedingte Störung, die sich durch ein anhaltendes Muster von Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und/oder Impulsivität zeigt. Die Diagnose stützt sich auf international anerkannte Kriterien, insbesondere DSM-5 und ICD-11.
Laut DSM-5/ICD-11 treten die Symptome in zwei Hauptbereichen auf:
A. Unaufmerksamkeit
Beispiele:
• Schwierigkeiten, die Aufmerksamkeit über längere Zeit aufrechtzuerhalten
• Flüchtigkeitsfehler
• Vergesslichkeit, Probleme in der Organisation
• Leichte Ablenkbarkeit
B. Hyperaktivität/Impulsivität
Beispiele:
• Motorische Unruhe („Zappeln“, „nicht stillsitzen können“)
• Rededrang
• Schwierigkeiten abzuwarten
• Impulsive Entscheidungen
Wie können wir die Schwierigkeiten konkret benennen?
Wie aus den oben genannten Punkten deutlich wird, setzt sich die Diagnose aus vielen Teilbereichen zusammen. Neben einer grundlegenden Anlage der individuellen Persönlichkeit gibt es Bereiche, die gezielt gefördert werden können. Jeder Fortschritt in einem dieser Teilbereiche wirkt entlastend auf die Gesamtsituation – manchmal sogar als echter „Game Changer“.
1. Blickfolge
Eine unreife Blickfolge verstärkt Schwierigkeiten bei Konzentration, Lesen, Hand-Auge-Koordination und auch im Sozialverhalten (z. B. Blickkontakt). Mit kleinen Körperübungen lassen sich hier deutliche Fortschritte erzielen. Häufig verbessern sich dadurch die schulischen Leistungen ebenso wie der Umgang im sozialen Umfeld.
2. Vergesslichkeit, Organisationsprobleme, leichte Ablenkbarkeit
Durch kurze, regelmäßig wiederholte Körperübungen finden Kinder zu mehr Selbstwahrnehmung. Diese innere Ordnung führt zu mehr Konzentration, hilft ihnen, Reize besser auszublenden, und stärkt langfristig ihre Fähigkeit, Aufgaben strukturierter anzugehen.
3. Konzentration
„Mangelnde Konzentrationsfähigkeit“ ist oft nicht das eigentliche Problem. Häufig benötigen Kinder (unbemerkt) viel Konzentration für Bereiche, die eigentlich schon verinnerlicht sein sollten. Man kann es gut mit der ersten Fahrstunde vergleichen: Kuppeln, schalten, blinken, in den Spiegel schauen – all das gleichzeitig umzusetzen, ist zunächst überfordernd. Ähnlich geht es Kindern, deren Koordination noch unreif ist, deren Blickfolge nicht stabil arbeitet oder deren Wahrnehmung verlangsamt reagiert. Sie benötigen viel Aufmerksamkeit für die Steuerung dieser Prozesse. Manchmal bleibt zu wenig Kapazität für inhaltliche Aufgaben.
4. Motorische Unruhe
Motorische Unruhe entsteht häufig aus einer unreifen oder unzureichenden Bewegungsplanung. Typische Beobachtungen sind: Das Kind dreht den Kopf – und gleichzeitig dreht sich der Schultergürtel oder der ganze Rumpf mit. Hier hilft keine Ermahnung, sondern eine gezielte Förderung der Rotationsfähigkeit der Wirbelsäule. Auch mangelnde Körperspannung spielt eine Rolle: Viele Kinder können nicht entspannt aufrecht sitzen, wodurch sie schnell in eine ungünstige Position rutschen und ständig nachjustieren müssen. Das wirkt wie „Herumzappeln“. Eine hohe sensorische Empfindlichkeit – z. B. im Rücken – kann bei Kontakt mit der Stuhllehne unkontrollierte Ausgleichsbewegungen auslösen. Bei anderen Kindern führt die Stimulation der Handflächen zu Müdigkeit, Mundbewegungen oder Unruhe. Mit einfachen, täglichen Übungen lassen sich diese Schwierigkeiten oft deutlich reduzieren. Es braucht nur 5 Minuten am Tag – und etwas Ausdauer. Die positive Wirkung ist oft enorm.
5. Orientierungslosigkeit
Eine unreife Raum-Lage-Wahrnehmung führt nicht nur zu Orientierungslosigkeit im Alltag, sondern zeigt sich auch beim Schreiben, Lesen und Rechnen. Buchstaben werden gespiegelt, Aufgaben wirken unstrukturiert, die Rechenrichtung ist nicht klar. Das ist frustrierend – und durch „mehr Üben“ oft nicht zu lösen. Kinder, die sich ständig überfordert fühlen und keine passende Unterstützung bekommen, suchen verständlicherweise Wege, dieser schwierigen Situation zu entkommen: Ablenkung, Träumen, Beschäftigung mit allem, was weniger mühsam ist.
Was hilft wirklich weiter?
Kinder mit ADHS brauchen gezielte Unterstützung – orientiert an ihren individuellen Bedürfnissen.
Neuromotorische Förderung arbeitet mit kleinen, klar aufgebauten Bewegungsimpulsen. So wie in der Mathematik ein logischer Aufbau nötig ist, braucht auch die Förderung der Bewegungsplanung eine systematische Struktur, um nachhaltig zu wirken.„Neuro“ weist auf die Bedeutung der zugrunde liegenden neurologischen Prozesse hin. Wirkliche Verinnerlichung entsteht nur über regelmäßige Wiederholung – bis eine automatische Sicherheit entsteht. Nicht die Länge der Übungseinheit ist entscheidend, sondern die Ausdauer. Wer täglich 5 Minuten übt und dies über einen längeren Zeitraum durchhält, wird Erfolge sehen.
Aus jahrelanger Erfahrung kann ich sagen: Auch Kinder mit ADHS entwickeln eine sichere Blickfolge, eine konzentrierte Augen-Hand-Koordination und können Blickkontakt halten. Der Kopf dreht sich, ohne dass der ganze Körper mitgeht. Es fallen weniger Stifte herunter, das Lesen wird flüssiger, die Rechenrichtung klarer. Diagonalen werden erkannt und korrekt wiedergegeben. Das Kind reagiert nicht mehr auf jeden äußeren Reiz.
Wie können wir Kinder sinnvoll unterstützen?
1. Hinsehen: Mit etwas Aufmerksamkeit lässt sich oft gut erkennen, in welchen Bereichen ein Kind Unterstützung benötigt.
2. Sich auf den Weg machen: Veränderung braucht Zeit – und beginnt nicht von selbst und auch nicht im Warten, ob und wann der „Knoten platzt“. Je früher wir mit kleinen Einheiten starten, desto leichter gelingt die Förderung.
3. Sinnvoll fördern: Jede Förderung beginnt beim individuellen Ausgangspunkt. Das erfordert Geduld, Ehrlichkeit – und Zeit. Deshalb frühzeitig beginnen. (Siehe Punkt 2).
4. Kindgemäß fördern: Mit Freude lernt es sich leichter. Neuromotorische Förderung macht vielen Kindern Spaß, wenn sie spielerisch gestaltet ist. Neun Tiere zeigen den Weg: Die Schnecke kriecht, der Igel überwindet Angst, der Drehwurm bewegt sich hin und her usw. Geschichten schaffen einen emotionalen Bezug, Spiele stärken das gemeinsame Erleben. Rituale geben Sicherheit und helfen, die Übungen im Alltag zu verankern. Lieder und Reime laden zum Mitmachen ein.
5. Gemeinsam statt einsam: Unsere Kinder brauchen uns. Fünf Minuten am Tag – das klingt wenig, kann aber zu wertvoller „Quality-Time“ werden und langfristig zu mehr Entspannung und Lebensfreude führen.
ADHS ist keine Krankheit
Menschen mit ADHS-typischen Eigenschaften bereichern unsere Gesellschaft. Wir bewundern sie, weil ihre Energie, ihre Kreativität und Spontaneität uns Freude und Leichtigkeit bringen. Unsere Aufgabe ist es, gerade diese Kinder wertschätzend zu begleiten und ihnen die nötige Unterstützung zu geben. Dann werden sie ihre Fähigkeiten entfalten und nicht im Gefühl des Defizits stecken bleiben.



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